In die Köpfe der Kabinettsrunde von 10 Downing Street schaut niemand hinein. Aber wahrscheinlich tut man der britischen Regierung kein Unrecht, wenn man unterstellt, dass manch einer sich heimlich wünscht, Premierminister Keir Starmer würde an diesem Donnerstag im Weißen Haus ungefähr das wagen, was Hugh Grant in Love Actually tat, dem besten und britischsten Weihnachtsfilm aller Zeiten. Wer kennt sie nicht, die Ansage des feschen unbeugsamen Premiers an den fiesen egomanischen US-Präsidenten inmitten einer Pressekonferenz: "Ein Freund, der sich rüpelhaft verhält, ist kein Freund mehr!"

Immerhin, wenn es einen Regierungschef gibt in Europa, der allen Grund hätte, Donald Trump und seine Leute gepflegt daran zu erinnern, dass Manieren den Menschen machen, wäre es Starmer. Noch bevor Elon Musk die AfD als Günstlingspartei entdeckte, war Trumps Lautsprecher immer wieder über die britische Labour-Regierung hergezogen, als sei sie eine verkommene Herrscherclique eines Schurkenstaats. Starmer gehöre "ins Gefängnis", postete der X-Eigentümer Anfang Januar. Er fragte seine Followerschaft auch, ob die USA den Briten helfen solle, sich von deren "tyrannischer Regierung" zu befreien.

Es ist aber nun mal gerade nicht Weihnachten in Europa. Und der Film, der in diesen Wochen vor Starmers innerem Auge abläuft, trägt erkennbar einen anderen Titel: Realismus, actually. Auch wenn der britische Premier keine Illusionen darüber haben dürfte, dass er es bei Trump mit einem bully zu tun hat – mit jemandem also, der seine Macht missbraucht, um Schwächeren die Arme zu verdrehen –, Starmer weiß auch: Der deutlich gefährlichere bully für Europa ist Wladimir Putin. Und um ihn einzuhegen, braucht es den bully im Weißen Haus, ob das den Europäern nun gefällt oder nicht

Vor der Reise nach Washington, D. C., ließ sich ein Starmer-Vertrauter vom Guardian deshalb mit dieser Ansage zitieren: "Wir wollen Trump nicht verärgern, das wäre völlig kontraproduktiv, sowohl im Hinblick auf unsere Interessen als auch auf die der europäischen und ukrainischen Sicherheit." Und: "Wir sind viel mehr an dem interessiert, was Trump tatsächlich tut, als an dem, was er sagt. Bisher, das ist unser Eindruck, besteht zwischen beidem ein Unterschied." Mit anderen Worten: Wenn die Lehre aus Trumps erster Amtszeit lautet, dass man diesen Präsidenten zwar ernst, aber nicht wörtlich nehmen sollte, dann lässt sich der Raum zwischen beidem, also zwischen seinen Impulsen und seinen Taten, womöglich ein wenig gestalten.

Nur, wie kann es europäischen Staatschefs gelingen, ein Wörtchen mitzureden bei den Verhandlungen zwischen Trump und Putin, wenn sie derzeit nicht viel mehr zu bieten haben als gute Absichten, ein Bewusstsein für die Dringlichkeit und leere Taschen? Selbst wenn die europäischen Nato-Staaten heute damit begönnen, deutlich mehr Geld für Verteidigung auszugeben, würde eine tatsächliche militärische Stärkung des Kontinents viel mehr Zeit erfordern, als Trump Geduld aufbringen kann. Panzer, Artillerie, Soldaten und Schiffe gibt es nicht bei Amazon, ihre Beschaffung in Masse kann zehn, zwanzig Jahre dauern. Um Trump zu beeindrucken, kann Europa deshalb gerade nur eines tun: möglichst glaubhaft vermitteln, dass es jetzt, endlich, wirklich tun wird, was es kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten.

"Das wäre gegen unsere Geschichte"

Starmer sieht sich in dieser Hinsicht offenbar nicht nur als der wichtigste kommunikative Brückenkopf Europas über den Atlantik. Er will auch im Konkreten der Wegbereiter sein. Auf Trumps Deal-Macherei über die Ukraine hinweg hat der britische Premier früh und beständig mit immer mehr Schritten reagiert, die zeigen sollen: Wir geben, was wir können. Erst sagte Starmer, er könne sich vorstellen, britische Soldaten zu entsenden, um einen wie auch immer gearteten Frieden in der Ukraine abzusichern. Danach ventilierte seine Regierung die Bereitschaft, britische Eurofighter könnten zum Air Policing in der Ukraine beitragen, ähnlich wie schon in den baltischen Staaten. 

Am Dienstag schließlich beschwor Starmer im Londoner Unterhaus Großbritanniens Kampf gegen Hitler, um auf den Punkt zu bringen, worum es jetzt – wieder einmal – gehe: Um "peace through strength", um Frieden durch Stärke. Diese Stärke gebe es nur mit den USA, nicht ohne sie. Starmer sagte in diesem Zusammenhang auch zwei Sätze, die sich als ausdrücklicher Widerspruch zu einer Äußerung von Friedrich Merz deuten lassen. Der CDU-Chef hatte am Sonntag nach seinem Wahlsieg in Berlin das Ziel ausgegeben, militärisch "Unabhängigkeit von den USA" erreichen zu wollen. "Wir müssen", setzte Starmer dem entgegen, "jede falsche Wahl zwischen unseren Verbündeten zurückweisen, zwischen einer Seite des Atlantiks oder der anderen. Das wäre gegen unsere Geschichte – sowohl als Partei wie auch als Land – weil es gegen unser fundamentales nationales Interesse wäre."

Wiederum konkret kündigte der Premier an, die Verteidigungsausgaben von bisher 2,3 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts auf 2,5 Prozent bis zum Jahr 2027 zu erhöhen. In der nächsten Legislaturperiode sollen sie dann auf 3 Prozent steigen. Um einen sofortigen Aufwuchs des Verteidigungsbudgets zu bewirken, solle bei der Entwicklungshilfe gespart werden. Das sei ein "schmerzhafter" Schritt, der ihm nicht leichtgefallen sei, sagte Starmer. Aber er sehe keine andere Geldquelle, denn weitere Schulden kämen nicht infrage. Viel sind 2,5 Prozent im historischen Vergleich nicht. In den 1980er-Jahren lagen die Verteidigungsausgaben in Großbritannien zwischen 4 und 5 Prozent des BIP. Aber wie die deutschen wurden auch die britischen Streitkräfte in den vergangenen 30 Jahren so drastisch abgeschmolzen, dass es jetzt erst einmal Investitionen in Strukturen bräuchte, die dann mehr Geld überhaupt erst absorbieren könnten.

Für Starmer, den einstigen Brexit-Gegner, ist ausgerechnet der Trumpismus damit auch eine Gelegenheit, sein Land wieder zu einem europäischen Player zu machen. Großbritanniens Brückenkopf in Brüssel ist zwar nicht mehr das Kommissionsgebäude, aber nun umso stärker das Nato-Hauptquartier. Schafft Starmer es, die special relationship zwischen Großbritannien und den USA nicht nur zu erhalten, sondern auch zu "stärken", wie er sagt, dann schafft er damit zugleich eine neue special relationship mit der EU. Als wichtigster Sicherheitsvermittler für den Kontinent, oder auch: als bester Flüsterer des bully, den Europa nun einmal noch ein Weilchen braucht.